Offener Brief an Bundespräsident Dr. Steinmeier

Offener Brief an Bundespräsident Dr. Steinmeier

 

[25.03.2024]

 

An den
Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland
Spreeweg 1
10557 Berlin

Sehr verehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrter Herr Steinmeier,

wir wenden uns verzweifelt an Sie, mit der Bitte um ein ernsthaftes Ringen um Ehrlichkeit und Offenheit in der Klimadebatte. Die Klimakrise eskaliert immer schneller. In vielen Regionen der Welt sind die Folgen nicht nur unübersehbar, sondern kosten Menschenleben, zerstören Lebensgrundlagen und verursachen millionenfache Flucht1 .

Seit dem 7.3.2024 ist Wolfgang Metzeler-Kick, genannt Wolli, den viele von uns aus diversen Klimaschutzaktivitäten kennen, in einen unbefristeten Hungerstreik getreten. Er wünscht sich eine ehrliche Kommunikation zur Klimakrise durch die Bundesregierung - etwas, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Wir teilen seine Verzweiflung, die ihn dazu bewegt, auf individueller Ebene schmerzhaft sichtbar zu machen, was uns als Gesellschaft droht: das Wegbrechen unserer Lebensgrundlagen und dessen Konsequenzen.

Es zerreißt uns zu sehen, wie große Teile der Gesellschaft lethargisch und entpolitisiert ihrem Alltag nachgehen und Einzelne ihre Gesundheit und sogar ihr Leben riskieren, um von der Politik eine angemessene Reaktion auf die größte Menschheitskrise zu fordern. Wir wissen, dass weitere Menschen planen, sich Wolli anzuschließen und ihre Entschlossenheit, bis zum Tode zu hungern, macht uns große Angst2.

Das Umweltbundesamt (UBA) verbreitet die Hoffnung, dass Deutschland seine Klimaziele für 2030 einhalten könne. Genaueres Hinsehen zeigt jedoch, dass Deutschland seine Emissionsreduktion stark beschleunigen müsste, um die Erderhitzung auf immerhin deutlich unter 2 Grad zu begrenzen. Zum Beispiel sind in den Berechnungen des UBA Maßnahmen (im Gebäudesektor) als emissionsmindernd eingerechnet, von deren Umsetzung aktuell nicht ausgegangen werden kann3. Außerdem müssen die Emissionen im Verkehrssektor massiv reduziert werden.

Das eigentliche Ziel, die Erhitzung auf unter 1,5 Grad zu begrenzen, lässt sich auch wegen der halbherzigen Handlungen seit der Ratifizierung der Übereinkunft von Paris realistisch nicht mehr erreichen - etwas, was die Bundesregierung inklusive der Folgen ehrlich kommunizieren müsste.

Es geht in der öffentlichen Kommunikation unter, dass sich mit der Verrechnung von Emissionsminderungen zwischen verschiedenen Sektoren das aktuelle Bild beschönigen lässt, aber dass so in den nachhängenden Sektoren die anstehende Transformation zukünftig umso schneller bewerkstelligt werden muss. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Verschiebung solcher Lasten in die Zukunft verfassungswidrig ist - sie raubt künftigen Generationen ihre Freiheit. Die aktuelle Politik nimmt die einfachen Aufgaben in Angriff und überlässt die schwierigen Aufgaben künftigen Generationen, die dafür dann noch weniger Zeit zur Verfügung haben.

Der verengte Blick auf die Emissionsminderung verschleiert, dass neue Forschungsergebnisse zeigen, dass die geplanten Maßnahmen nicht reichen, um die Klimaziele zu erreichen4, dass die Temperaturgrenze von deutlich unter 2 Grad schon bei geringeren CO2-Konzentrationen erreicht werden wird5 und mögliche Kipppunkte wegen derer die Grenze gewählt wurde, schon früher überschritten werden6. Weiter verschleiert der Blick auf Emissionsminderungen, dass manche Emissionen bisher systematisch unterschätzt wurden (z. B. die Emissionen aus trockengelegten Mooren7).

Bei allem Verständnis für Zweckoptimismus, mit dem leider auch in der Klimabewegung manchmal kommuniziert wird, führen die beschönigende Klimakommunikation der Bundesregierung und der aktuelle UBA-Bericht bei Menschen, die wie Wolli die wissenschaftliche Tatsachenlage im Blick behalten, zu Verzweiflung, Fatalismus und einem starken Gefühl der Hilflosigkeit.

Herr Dr. Steinmeier, wir brauchen jetzt einen Bundespräsidenten, der bereit ist, ehrlich zum Stand der Lage zu kommunizieren. Ehrlichkeit in punkto Klimakrise bedeutet auch, zu erklären wie groß die Lücken sind: zwischen dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand und den politischen Zielen; zwischen den Zielen und den implementierten und geplanten Maßnahmen; zwischen den Maßnahmen und der Wirksamkeit der Maßnahmen. Außerdem bedarf es dem Vermitteln der Tatsache, dass wir eben noch nicht alles wissen und worst-case Szenarien unterbeforscht sind, d.h. dass es bereits jetzt schon schlimmer sein kann als wir denken und Kipppunkte vielleicht schon überschritten sind.

Bitten Sie Herrn Kanzler Scholz um eine entsprechende Regierungserklärung!

Der Deutsche Ethikrat hat in seiner Stellungnahme zur Klimagerechtigkeit als erste Forderung formuliert:

"Herausforderungen und Potenziale der zur Bewältigung des Klimawandels erforderlichen sozial-ökologischen Transformation sollten künftig deutlicher öffentlich, politisch und gesellschaftlich diskutiert werden."8

Herr Bundespräsident Steinmeier, bitte ergreifen Sie die Initiative in der notwendigen gesellschaftlichen Diskussion. Da reicht es nicht, dass Sie - so lobenswert das auch ist - Anfang Juni eine "Woche der Umwelt" planen. Ihre Stimme, Ihr Klartext, ist notwendig, um beständig gesellschaftliche Impulse für die anstehende Transformation zu setzen.

Mit vorzüglicher Hochachtung,

NN

stellvertretend für folgende Parents for Future Ortsgruppen:
Bayreuth, Berlin, Bornheim-Swisttal-Weilerswist, Darmstadt, Esslingen, Frankfurt, Hannover, Heilbronn, Leipzig, Lindau, Markkleeberg, Ravensburg, Reutlingen, Stuttgart, Tübingen, Ulm, Wuppertal

 

OG-BayreuthOG-BerlinOG-Bornheim-Swisttal-WeilerswistOG-DarmstadtOG-EsslingenOG-FrankfurtOG-HannoverOG-HeilbronnOG-LeipzigOG-MarkkleebergOG-RavensburgOG-ReutlingenOG-StuttgartOG-TübingenOG-UlmOG-Wuppertal

tl

  1. ZDF von 8.12.2023, Klimawandel zwingt Kinder zur Flucht:
  2. Homepage der Initiative Hungern bis ihr ehrlich seid!
  3. Thread bei X von Elisabeth Staudt, Senior Expert Energie und Klimaschutz bei @Umwelthilfe
  4. Tagesschau von 20.11.2023: UNEP-Bericht zu Erderwärmung Fast drei Grad mehr bis zum Jahr 2100
    Der dem Bericht der Tagesschau zugrunde liegende Emissions Gap Report 2023 der UNEP vom 20.11.2023
  5. Telepolis vom 31.10.2023, Ist das CO2-Budget der Menschheit in sechs Jahren ausgeschöpft?
    Nature vom 30.10.2023, Assessing the size and uncertainty of remaining carbon budgets
  6. science vom 9.2.2024, Physics-based early warning signal shows that AMOC is on tipping course
    RND vom 6.12.2023, Diese fünf Kipppunkte könnten unser Klima aus der Bahn werfen
  7. NDR vom 7.3.2024, Trockene Moore: Mehr Treibhausgase als angenommen
  8. Deutscher Ethikrat vom 13.3.2024, Stellungnahmen Klimagerechtigkeit

Weitere Informationen